Autonomie und Befreiung by Christoph Menke
Autor:Christoph Menke
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Freiheit, Freiheitstheorie, Philosophie, zweite Natur
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
Etwas Anthropologisches
Der kritischen Bestimmung der Gewohnheit als zweiter Natur – die Gewohnheit ist »ein die Gestalt eines Unmittelbaren annehmendes Gesetztes« (Enz III, § 410 Z, S. 189) – fügt Hegel die Erläuterung an, daß sie »etwas bloß Anthropologisches« sei. Daß die zweite Natur etwas »Anthropologisches« ist, heißt, daß die Selbstverkehrung des Geistes, die seine Gestalt als zweite Natur hervorbringt, das Gesetz ist, das den Geist in seiner menschlichen Erscheinungsform beherrscht. Der im Menschen erscheinende Geist ist »endlicher« Geist, und der kritisch-genealogische Begriff der zweiten Natur gehört in die Theorie des endlichen Geistes (und zwar in beide ihrer Teile: die Theorie des subjektiven und die Theorie des objektiven Geistes[34]). Ebenso die Notwendigkeit wie der Mangel der zweiten Natur im Geist sind relativ auf die Notwendigkeit (und den Mangel) seiner endlichen, menschlichen Gestalt.
Das bedeutet zweierlei: Es bedeutet zum einen, daß der end139liche Geist, der Geist, wie er im Menschen ist, vom Gesetz seiner Selbstverkehrung in eine zweite Natur durchgehend beherrscht wird. Die Selbstverfehlung des Geistes in seiner Verkehrung in eine zweite Natur ist kein vermeidbarer Fehler, sondern sie definiert die Endlichkeit des menschlichen Geistes: Als endlicher ist der Geist nicht bloß – oder rein – Geist. »Unter dem anthropologischen Aspekt« gilt, daß »der Geist niemals aufhört, naturverfallener Geist zu sein«.[35] In seiner anthropologischen Theorie der zweiten Natur beschreibt Hegel daher nichts anderes als die irreduzible Naturhaftigkeit des endlichen Geistes. Damit beginnt in Hegels Theorie der zweiten Natur eine materialistische Revision – nicht: Reduktion – der Theorie des Geistes.
Daß die Notwendigkeit und der Mangel der zweiten Natur im Geist relativ auf die Notwendigkeit (und den Mangel) seiner endlichen Gestalt sind, bedeutet jedoch zugleich und zum zweiten, daß den Begriff der zweiten Natur zu denken die Perspektive auf deren Überwindung einschließt. Als Teil einer Theorie des endlichen Geistes verlangt der Begriff der zweiten Natur nichts weniger als eine Theorie des »absoluten« Geistes. Wenn Hegel im Sinne von Marx’ »wahrhaft philosophischer Kritik« die zweite Natur auf ihren »Geburtsakt« in der Selbstverkehrung des Geistes zurückführt, dann macht er den Geist selbst als den Grund seiner – mangelhaften, endlichen – Wirklichkeit als zweiter Natur aus. Wie gese140hen, bedeutet das zum einen, daß die Verkehrung des Geistes in eine zweite Natur ein Mangel oder Fehler ist, der dem Geist selbst eingeschrieben ist. Aber es bedeutet auch zum zweiten (und im Gegenzug), daß die Verkehrung des Geistes in eine zweite Natur durch ihn selbst hervorgebracht ist. Der Geist ist der Grund der Verfehlung des Geistes. Deshalb ist der Geist aber auch mehr als seine Verfehlung: Er ist als deren Grund über seine Verkehrung in die zweite Natur hinaus. Wenn der Geist selbst seine Verkehrung in die zweite Natur hervorbringt, dann ist er in diesem Hervorbringen mehr und anderes als endlicher Geist (der der Verkehrung in die zweite Natur unterliegt). Die materialistische Revision der Theorie des Geistes, die mit Hegels Begriff der zweiten Natur beginnt, bedeutet daher keinen anthropologischen Pessimismus. Gemäß dem Programm der wahrhaft philosophischen Kritik den »Geburtsakt« der zweiten Natur zu beschreiben heißt, sie aus der Selbstverkehrung des Geistes zu erklären.
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